Seit über 1200 Tagen dauert der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine an und markiert eine sicherheitspolitische Zeitenwende. Die Europäische Sicherheitsordnung steht vor der Herausforderung, sich an neue Bedrohungslagen anzupassen. Strategische Vorausschau wird dabei zum zentralen Instrument, um Konflikte frühzeitig zu erkennen und außenpolitische Handlungsoptionen zu entwickeln. Der Krieg verändert die Rahmenbedingungen strategischer Analyse grundlegend und erfordert eine konzeptionelle und analytische Weiterentwicklung dieses Ansatzes.
Russische Ordnungsvorstellungen als Herausforderung für westliche Analysemodelle
Die russische Führung operiert mit Ordnungsvorstellungen, die sich fundamental von westlich geprägten Völkerrechtsauffassungen unterscheiden. Unter Rückgriff auf das Konzept der russkij mir (russische Welt) erhebt Russland „Schutzansprüche“ gegenüber russischsprachigen Bevölkerungen im Ausland und leitet daraus Eingriffsrechte in souveräne Staaten ab. Die territoriale Integrität anderer Staaten wird diesem Verständnis untergeordnet.
Diese Form der Ordnungspolitik folgt einer großräumigen Logik: Russland versteht sich als regionale Großmacht mit besonderen Rechten und Pflichten – inklusive eines Interventionsrechts im „eigenen“ Einflussbereich und eines Interventionsverbots für raumfremde Akteure wie die NATO. Diese Vorstellung erinnert an Carl Schmitts Theorie des „Interventionsverbots raumfremder Mächte“ und steht im klaren Widerspruch zur regelbasierten internationalen Ordnung. Solche Ordnungsvorstellungen wirken sich direkt auf strategische Analyseprozesse aus. Wer sie ignoriert oder unterschätzt, läuft Gefahr, zentrale Entwicklungen zu übersehen – wie es im Vorfeld des Einmarschs 2022 vielfach der Fall war.
Strategische Vorausschau – von der Informationssammlung zur politischen Handlungshilfe
Strategische Vorausschau dient dazu, Unsicherheiten in komplexen politischen Umfeldern zu strukturieren und denkbare Zukunftsszenarien zu entwerfen. Sie ersetzt keine Vorhersage, sondern bietet Orientierungswissen für Entscheidungsträger. Dabei werden interdisziplinäre Methoden eingesetzt, um faktenbasierte Entwicklungen zu beobachten, einzuordnen und daraus robuste Handlungsoptionen zu generieren.
Durch ein „Reframing-Prozess“ könnten bspw. eigene Grundannahmen und Wahrnehmungsmuster regelmäßig hinterfragt und angepasst werden. Nur durch die bewusste Auseinandersetzung mit verschiedenen Rationalitäten – wie dem russischen Ordnungsdenken – lassen sich verlässliche Einschätzungen entwickeln.
Ein zentrales Problem vergangener Jahre bestand in einer einseitigen westlichen Wahrnehmung. Während baltische Staaten frühzeitig vor einer aggressiven russischen Außenpolitik warnten, blieben viele Warnsignale in der breiteren strategischen Analyse unbeachtet. Die Folge war ein unzureichendes Lagebild – ein Schwachpunkt, der durch unklare Interpretationsmuster und überbordende Informationsmengen zusätzlich verstärkt wurde.
Neue Anforderungen an die strategische Vorausschau
Um den Anforderungen einer sich wandelnden Weltordnung gerecht zu werden, müssen strategische Vorausschau künftig:
- nicht nur Informationen sammeln, sondern diese auch mit angepassten, multiperspektivischen Interpretationsmuster verknüpfen,
- Ordnungsvorstellungen nicht-westlicher Akteure einbeziehen und deren strategische Rationalitäten verstehen,
- stärker mit Frühwarnsystemen verknüpft werden, die politische Entwicklungen als Ausdruck spezifische Ordnungslogiken deuten,
- eine Brücke zwischen Analyse und politischer Handlungsempfehlung schlagen.
Ein besonderer Dank gilt Florian Hubert von der Professur für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Deutsche und Europäische Außenpolitik an der Goethe-Universität Frankfurt für den spannenden und fundierten Vortrag sowie die angeregte und erkenntnisreiche Diskussionsrunde, die daraus hervorging.